Im Interview mit Missy Marston zu ihrem Roman "Fliegen oder fallen"

Dan Ziemkievicz
© Dan Ziemkievicz
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Die kanadische Autorin Missy Marston wuchs in der Nähe von Iroquois, Ontario, auf, in derselben Straße, in der der Stuntman Ken Carter in den Siebzigern eine riesige Rampe baute, um über den Sankt-Lorenz-Strom zu springen. Bei GOYA erschien ihr Roman Fliegen oder fallen, der eine mitreißende Geschichte rund um den waghalsigen Stunt spinnt. In einem Interview stellte sich Marston den Fragen des JUMBO Verlags:

Ihr Buch Fliegen oder fallen (engl. Bad Ideas) erschien im August 2022 in deutscher Übersetzung. Was hat Sie inspiriert, dieses Buch zu schreiben? Was steckt dahinter?

Den Grundstoff für Fliegen oder Fallen bildeten zwei sehr einschneidende Ereignisse im Leben der Bewohner meines Heimatortes Iroquois in Ontario, Kanada: Zum einen die Verbreiterung des Sankt-Lorenz-Stroms in den 1950er Jahren, als zehntausende Arbeiter aus dem ganzen Land kamen, um die Dörfer entlang des Flusslaufes Stein für Stein abzutragen, woanders wieder aufzubauen und die ehemaligen Wohngebiete zu fluten. Zum anderen das Auftauchen des Stuntfahrers Ken Carter, genannt "The Mad Canadian", in den 1970ern; Ken Carter hatte sich in den Kopf gesetzt, am Ende der Straße, in der ich aufgewachsen bin, eine Rampe zu bauen, und behauptete, eines Tages mit seinem getunten Raketenauto über den Strom zu springen.

Die Idee, diese Ereignisse aus der Perspektive von drei Frauen aus drei Generationen zu schildern, hat mich sehr gereizt. So kam ich auf Claire (die eine Liebschaft mit einem der Arbeiter hatte und verlassen wurde), ihre Tochter Trudy (die Ken Carter verfallen ist, ihn aber auch verflucht) und Mercy, Enkelin von Claire (die mitten in dem Chaos aufwächst).

Ken Carter, "The Mad Canadian", diente als Vorbild für Ihre Figur Jules. Gibt es im Buch noch andere Charaktere, die sich an realen Personen orientieren?

Abgesehen von Jules ist die Figur, die am nächsten an realen Vorbildern dran ist, wohl Mercy, denn in ihre Perspektive sind Erinnerungen an meine eigene Kindheit eingeflossen. Um Mercys Sicht glaubhaft zu beschreiben, habe ich Ängste, Enttäuschungen und Freuden von früher ausgraben. Auch erkenne ich Charakterzüge meiner beiden Kinder bei Mercy wieder.

Die Handlung wird aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Mit welchen Figuren fühlen Sie sich am engsten verbunden? Und mit welchen sind Sie nicht so schnell warmgeworden beim Schreiben?

Ich liebe all meine Figuren - selbst die aufsässigen, störrischen. Im Englischen gibt es ein Sprichwort: "Der Herr schätzt den, der es versucht." Das tue ich auch. Und alle Menschen in der Geschichte versuchen, etwas zu erreichen. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, dann für Trudy, die Hauptfigur, und Jules, den Stuntfahrer. Sie ist kaum zwanzig und versucht ihre Familie als alleinerziehende Berufstätige zusammenhalten. Er bereitet wie besessen einen Stunt vor, der sein Leben verändern soll. Keinem von beiden wird etwas geschenkt.

Wer schwerer zu fassen war beim Schreiben? Das meiste Fingerspitzengefühl brauchte Claire. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie sehr schlicht zu zeichnen: als schrullige, verzweifelte und realitätsferne Frau. Aber Menschen sind komplexer und auch komplizierter. Claire ist, in mancher Hinsicht, auch sehr zielstrebig und abwägend, selbstbewusst, gleichzeitig selbstlos. Es war durchaus eine Herausforderung, ihren Charme herauszuarbeiten und sie zugleich plausibel zu halten.

Trudy und ihre Schwester Tammy sind sehr unterschiedlich. Während Trudy stets bedacht handelt, ist Tammy eher impulsiv. Was verbindet die beiden miteinander?

Ich finde, sie haben recht ähnliche Grundzüge. Beide sind sehr impulsiv - und vielleicht ein bisschen jähzornig. Aber Trudy hat ihre Launen besser unter Kontrolle. Familien funktionieren zudem teilweise wie ein zusammengehöriger Organismus, bei dem der stärkste Part das meiste Gewicht trägt. Diese Rolle kommt definitiv Trudy zu.

Wie lässt sich die Geschichte um Trudys Abtreibung im Kontext aktueller Debatten in den USA und Europa lesen?

Fliegen oder fallen kann als eine Art Parabel auf die Frage der Fortpflanzung gelesen werde: Drei Teenagerinnen, die schwanger werden - Claire, Tammy und Trudy. Eine von ihnen bekommt das Kind und kümmert sich darum, eine gibt es weg, die dritte lässt es abtreiben. Das sind die Ausgangspunkte der jeweiligen Geschichten. Welchen Einfluss haben die jeweiligen Entscheidungen auf ihr eigenes Leben und das der Menschen um sie herum?

Trudys Entschluss, das Kind abzutreiben, ist nicht zuletzt einem tiefsitzenden Verantwortungsgefühl zuzuschreiben, das sie ihrer Familie gegenüber hat. Sie befürchtet, dass ohne ihr festes Einkommen und ihre Hilfe bei Mercys Erziehung alles zusammenbrechen wird.

Sind Sie Feministin?

O ja!

Wie wichtig ist die Anwesenheit männlicher Bezugspersonen für Trudy, Tammy und Claire?

In dem Buch geht es sehr viel um Liebe und Leidenschaft, um die diesen Regungen innewohnende Kraft, abzulenken, zu heilen oder auch zu erzürnen. Liebe bringt das Beste und manchmal auch das Schlimmste in den Menschen hervor. Aber eine Frage, die mich beim Schreiben besonders umgetrieben hat, war: Was passiert mit den Menschen, die in Schwierigkeiten geraten und abgedrängt werden, und ist dies bei Männern und Frauen unterschiedlich? Stuntfahrer, Rodeoreiter und Extremsportler haben mich schon immer fasziniert und auf eine Art auch tief erschüttert. Denn es braucht nicht nur Mut, um diese Dinge zu tun, sondern auch eine Bereitschaft, das eigene Leben für die Unterhaltung anderer aufs Spiel zu setzen.

Haben Sie eine*n Lieblings-Autor*in? Würden Sie sagen, ihr oder sein Stil hat Ihren eigenen beeinflusst? Oder sehen Sie sich eher in einer kanadischen Erzähltradition?

Ein einziger Name ist hier schwer zu nennen. Ich bin großer Fan von Joyce Carol Oates - ich habe bestimmt über 50 Bücher von ihr gelesen. Wie sie einen mit auf die Reise in ihren Kopf nimmt, das ist einfach magisch. Doris Lessing fasziniert mich auch ungeheuer. Ich wünschte, ich könnte so schreiben wie Martin Amis. Und seit einiger Zeit verfolge ich auch die mexikanische Autorin Fernanda Melchor - Saison der Wirbelstürme ist ein Meisterwerk.

Absolut, auf jeden Fall sehe ich mich in einer kanadischen Erzähltradition. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand schreiben könnte, was ich schreibe, ohne in Kanada gelebt und kanadische Autoren gelesen zu haben. (Ich meine, die Hauptfigur meines ersten Buches, The Love Monster, trägt den Namen Margaret Atwood. Außerdem taucht da ein Alien auf, der klingt wie Donald Sutherland. Das ist schon ziemlich kanadisch!) Als ich klein war, habe ich stundenlang kanadische Gedichte und Geschichten gelesen: Atwood, Laurence, Cohen, Layton. Das waren meine ersten literarischen Helden.

Was ist Ihr Rezept für pinke Tage mit schwarzen Wolken?

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was diese Redewendung genau besagen soll - aber sie gefällt mir! Pinke Tage mit schwarzen Wolken - Glück mit ein bisschen darüber ziehender Melancholie vielleicht? Keine Ahnung. Meine Tage verbringe ich am liebsten in der freien Natur, am liebsten im Sommer. Schwimmen gehen, lesen, mich mit meinen Lieblingsmenschen umgeben. Der Himmel!

Arbeiten Sie bereits an einem neuen Buch? Können Sie uns einen kleinen Vorgeschmack geben?

Ja! Mein nächster Roman spielt tief im Wald, in einer Welt voller Magie, Chaos und Sex. Wie wär’s damit als Ausblick?

[29.08.2022]

Missy Marston

Fliegen oder fallen

Ihre Mutter und ihre Schwester haben mit 17 ihr erstes Kind bekommen. Als auch Trudy früh schwanger wird, beschließt sie, abzutreiben. Das Leben in der kanadischen Kleinstadt in den Siebzigern hat ihr bisher nicht viel zu bieten. Aber es muss doch noch etwas anderes geben, als frühe Mutterschaft, abwesende Männer und harte Arbeit. Wo bleibt das Abenteuer, das Glück?

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Missy Marston

Fliegen oder fallen

Das Kleinstadtleben in Kanada in den 70ern hat Trudy bisher nicht viel zu bieten. Aber es muss doch noch etwas anderes geben, als frühe Mutterschaft, abwesende Männer und harte Arbeit. Wo bleibt das Abenteuer, das Glück?

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