Im Interview mit der Autorin Viktoria Lloyd-Barlow zu ihrem Debütroman "All die kleinen Vogelherzen"

Steven Lloyd-Barlow
Steven Lloyd-Barlow

All die kleinen Vogelherzen, der Debütroman von Viktoria Lloyd-Barlow, ist eine authentische Auseinandersetzung mit dem Leben als Autistin. Der Own-Voice-Roman einer neuen literarischen Stimme aus England war für den Booker Prize 2023 nominiert und wurde von Sabine Längsfeld ins Deutsche übersetzt. Wir haben mit der Autorin gesprochen. 

Der Roman war zunächst Ihre Doktorarbeit in Kreativem Schreiben. Ab wann haben Sie darüber nachgedacht, ihn zu veröffentlichen?

Das Ziel einer Doktorarbeit ist es, ein eigenes Werk zu erschaffen, das so auch veröffentlicht werden könnte, daher denke ich, dass alle Doktorand*innen ihr Werk an diesem Standard messen, unabhängig von ihrem Fach oder Interessengebiet. Ich habe mit dem Ehrgeiz recherchiert und geschrieben, eine Dissertation zu verfassen, die stark genug ist, um die Anforderungen für eine Veröffentlichung zu erfüllen, aber nur in einem theoretischen und nicht in einem wörtlichen Sinne.

Als ich die Arbeit dann allerdings fertiggestellt hatte, schlug meine Betreuerin, die Schriftstellerin Amy Sackville, vor, dass ihre Agentin Jenny Hewson von Lutyens and Rubinstein sie lesen sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatten nur meine Betreuer*innen meine Arbeit gesehen, sodass ich nicht wusste, wie sie von anderen aufgenommen werden würde. Als Jenny mir anbot, meine Agentin zu werden, begann ich zum ersten Mal darüber nachzudenken, dass meine Dissertation einen kommerziellen Verlag finden könnte.

Ihr Buch ist ein berührender Bericht über Autismus, über Unterschiede innerhalb der Gesellschaft und über Akzeptanz. Wen haben Sie sich beim Schreiben als Ihr Publikum vorgestellt? Hatten Sie das Gefühl, Sie versuchen, bei den Leser*innen mehr Verständnis zu wecken?

Während des Schreibens ging ich davon aus, dass nur meine Betreuer*innen und die Doktorand*innen das Buch lesen würden; die kleine Zahl dieser erwarteten Leserschaft ermöglichte es mir, entgegen den allgemeinen Erwartungen an autistische Erzählungen zu schreiben. Zuerst war es mehr ein rein literarisches Projekt als eines, das das Verständnis für Autismus fördern sollte. Als sich das Buch jedoch weiterentwickelte, begriff ich, dass der Erfolg von Sundays Stimme – und damit der des Buchs – von ihrer Fähigkeit abhängt, eine Verbindung mit den Leser*innen herzustellen, und dass dieser Prozess deren Verständnis erfordert.

Ich bin dankbar dafür, dass All die kleinen Vogelherzen inzwischen von mehr als den ursprünglichen vier oder fünf Personen gelesen wurde, und wenn es weiterhin unterhält, informiert oder einfach nur einen Bezug zu den Leser*innen herstellt, dann hat es viel mehr erreicht, als ich gehofft hatte. Ich fühle mich wie ein stolzer Elternteil, wenn ich an das Buch denke, besonders bei den übersetzten Versionen. Es ist, als ob mein ruhigstes Kind plötzlich erwachsen geworden ist und nun ohne mich in der Welt unterwegs ist, neue Orte bereist, Sprachen lernt, die ich nicht kenne, und selbstsicher mit Menschen spricht, die ich niemals treffen werde.

All die kleinen Vogelherzen spielt in England in den 80er Jahren. Gibt es einen Grund, warum Sie genau dieses Jahrzehnt gewählt haben?

Als ich anfing, über das Buch nachzudenken und es zu planen, war es immer im Kontext dieser Zeit. Die 1980er Jahre sind eine interessante Zeit, um autistische Erfahrungen zu untersuchen, weil sie vor der aktuellen Ideologie über die Krankheit liegt, die Autismus als Problem sieht. Als Gesellschaft diskutieren wir heute vielleicht mehr über Autismus als frühere Generationen, aber diese Konversation findet größtenteils zwischen neurotypischen Menschen statt; daher findet die zeitgenössische Erzählung außerhalb und über Autist*innen statt und wird nicht von uns selbst geäußert. In den letzten Jahrzehnten hat sich Autismus schnell zu einer Industrie entwickelt, die ironischerweise überwiegend von neurotypischen Wissenschaftler*innen und Theoretiker*innen betrieben wird. Eine solche Herangehensweise schließt ihr eigentliches Forschungssubjekt, Autist*innen, aus und baut gleichzeitig eine ungenaue Ideologie über ASS (Autismus-Spektrum-Störung) auf. Ich war in den 1980er Jahren ein Kind und weiß, dass es keine perfekte Zeit war, um Autist*in zu sein, aber es gab sicherlich ein flexibleres Denken und einen offeneren Dialog sowohl über Autismus als auch über das Potenzial der atypischen Community.

Es war befreiend, meine Protagonistin Sunday in eine Zeit zu versetzen, in der sie sich unabhängig von den neurotypisch begründeten Theorien, die die Darstellungen von Autismus dominieren, mit Neurodivergenz auseinandersetzen kann. Für mich war es wichtig, dass sie nicht gegen die Fehlerhaftigkeit der derzeit vertretenen Überzeugungen ankämpfen muss, sondern ihr Anderssein auf authentische Weise kennenlernen und zelebrieren kann. Hätte ich den Roman in der Gegenwart angesiedelt, hätte Sunday sich natürlich anhand der zeitgenössischen Theorien über Neurodivergenz beurteilt und wäre zu dem Schluss gekommen, dass sie nur eine gebrochene oder unzureichende Version von neurotypisch ist. Ich wollte, dass sie eine größere Wahrheit über sich selbst findet.

Ihr Roman dreht sich auch viel um das Thema Nachbarschaft. Welche verschiedenen Nachbartypen kommen in Ihrem Roman vor und prallen vielleicht sogar aufeinander?

Ich fand es interessant, inwiefern Klassenunterschiede Spannungen und Neugier zwischen den zentralen Figuren aufbauen. Sunday kommt aus einer Arbeiterfamilie; ihre Mutter war Putzfrau und ihr Vater Fischer. Sie profitiert also nicht von Familien- oder anderen gesellschaftlichen Verbindungen. Ihre neuen Nachbar*innen, Vita und Rollo, kommen aus der Oberschicht und ihr Lebensstil, ihr Selbstbewusstsein und ihre gesellschaftliche Verbundenheit verleihen ihnen einen sozialen Status, den Sunday selbst nie erfahren wird. Die Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse sind willkürlich, werden manchen bei der Geburt mitgegeben, dennoch werden die Begünstigten gefeiert, als hätten sie sich diese Privilegien mühsam erarbeitet. Sunday selbst ist vom Charme des wohlhabenden neuen Paares beeindruckt; es ist dieser Glamour, der sie von den räuberischen Absichten des Paares ablenkt.

Vita und Rollo stammen beide aus wohlhabenden Verhältnissen; sie haben Privatschulen und Spitzenuniversitäten besucht; sie sind zwar beide nicht besonders intellektuell oder akademisch, aber ihre Familien und ihr Umfeld haben die richtigen Kontakte. Sunday ist von Natur aus intelligent und analytisch, hat aber nicht den Status oder die Unterstützung, die ihr einen solchen Erfolg ermöglichen. Ihr Autismus hindert sie daran, in der neurotypischen Welt der Bildung erfolgreich zu sein. Das ist ein tragisches und häufiges Ergebnis für Autist*innen; von allen behinderten Studierenden sind Autist*innen am meisten gefährdet, die Hochschulausbildung abzubrechen.

Wie Sunday wurde auch ich in der Schule nicht als fähige Schülerin gesehen. Ich habe keine Prüfung abgelegt, bis ich weit über 30 Jahre alt war. Nachdem ich meine Kinder bekommen hatte, habe ich mich gezwungen gefühlt, ein gewisses Bildungsniveau zu erreichen, und habe festgestellt, dass ich das Studieren tatsächlich liebe. Ich habe erstklassige Abschlüsse im Grundstudium und im Aufbaustudium erreicht und habe anschließend promoviert. Ich hatte allerdings das Glück, diese Fähigkeit erst später im Leben zu entdecken; es mangelt immer noch an institutioneller Unterstützung für die autistische Community, um ihr akademisches oder berufliches Potenzial zu verwirklichen.

Autismus wirkt sich – wie jede Abweichung – negativ auf den Status aus, und das liegt nicht an der Person oder ihrer Behinderung, sondern an der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Die Zufälligkeit und die Macht des Status in einem literarischen Projekt zu untersuchen, hat dazu beigetragen, dieser Wahrheit ein wenig den Stachel zu nehmen.

Wer waren Ihre Held*innen, als sie aufwuchsen, und wie haben Sie die Welt der Bücher und des Schreibens für sich entdeckt?

Ich habe als Kind viel Zeit in unserer örtlichen Bibliothek verbracht und habe alles gelesen, was mir zwischen die Finger kam, ganz unabhängig von der eigentlichen Zielgruppe. Meine liebste Literaturepoche ist die Mitte des 20. Jahrhunderts, und ich lese regelmäßig Penelope Mortimer, Shirley Jackson und Richard Yates. Als ich jünger war, habe ich nicht wirklich geschrieben, da mein Schul- und Familienleben schwierig war. Ich entdeckte meine Liebe zum Schreiben, als ich in meinen Dreißigern endlich studierte. Wie viele andere Menschen hatte ich das Leben in meinen Gedanken immer minutiös miterzählt, während ich es erlebte oder beobachtete; an der Universität habe ich verstanden, dass auch der Schreibprozess so funktioniert. Ich glaube, vorher hatte ich immer angenommen, Schreiben sei eine fremde und unerreichbare Fähigkeit, nicht einfach ein Ausdruck der eigenen Ideen.