Im Interview mit der Übersetzerin Sabine Längsfeld zu "All die kleinen Vogelherzen" von Viktoria Lloyd-Barlow

Foto Sexauer
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All die kleinen Vogelherzen, der Own-Voice-Roman von Viktoria Lloyd-Barlow, war für den Booker Prize 2023 nominiert und wurde nun von Sabine Längsfeld ins Deutsche übersetzt. Wir haben mit der Übersetzerin über das Buch und ihre Arbeit als Übersetzerin gesprochen.

Viktoria Lloyd-Barlows Roman stand 2023 auf der Longlist für den Booker Prize. Im Statement der Jury heißt es: "All die kleinen Vogelherzen ist ein literarisches Debüt, das, geschrieben aus der Perspektive einer autistischen Mutter, meisterhaft Themen wie familiäre Liebe, Freundschaft, Klassenunterschiede, Vorurteile und Traumata miteinander verknüpft, das Ganze mit psychologischer Schärfe und Witz." Sie haben den Roman nun aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Worum geht es in dem Buch?

All die kleinen Vogelherzen erzählt, grob vereinfacht, die Geschichte einer aus heutiger Sicht autistischen Frau in den Achtzigerjahren, ehe die Diagnose Autismus wirklich bekannt war. Sunday ist alleinerziehende Mutter einer halbwüchsigen Tochter und arbeitet auf dem Hof ihrer ehemaligen Schwiegereltern. Als nebenan neue Nachbarn einziehen, ist Sunday augenblicklich von der glamourösen, unkonventionellen Vita fasziniert. Doch schon bald schleicht sich Unbehagen in die Geschichte ein, unterschwellige Anspannung, als Vita sich mit Sundays Tochter anfreundet, während Mutter und Tochter sich zunehmend entfremden.

Viktoria Lloyd-Barlow gestattet uns einen faszinierenden, unverstellten, auch schmerzhaften Blick in das Innenleben einer autistischen Frau und erzählt von der manchmal übergroßen Herausforderung, sich in einer Welt zurechtzufinden, der es an Verständnis mangelt.

Was war Ihnen bei der Übersetzung von Lloyd-Barlows Roman besonders wichtig?

Die Stimme der Protagonistin ist kraftvoll, unverstellt und klar. Das ins Deutsche zu bringen, war mir wirklich wichtig, auch, die dichte Atmosphäre nicht durch zu viele komplizierte Konstruktionen zu verwässern. Es galt, wunderbar eigenwillige Metaphern ins Deutsche zu bringen, die zum Glück auch bei uns sehr gut funktionieren. Dann sind da die beiden Bücher, die der Protagonistin als Lebensratgeber dienen und einen höchst unterschiedlichen Klang haben, der beibehalten werden wollte: Zum einen die Benimmfibel aus den Fünfzigerjahren, zum anderen ein Buch mit italienischen Volksmärchen. Sundays Gespür für Rhythmus und ihr beinahe chirurgischer Blick auf die Sprache ihres Umfelds brauchten ebenfalls besonderes Augenmerk.

Wie hat die Tatsache, dass die Geschichte aus der Perspektive einer autistischen Person erzählt wird und von einer Autistin verfasst ist, Ihre Übersetzungsarbeit beeinflusst?

Vielleicht, indem ich mich noch mehr als sonst zu absoluter Behutsamkeit verpflichtet fühlte. Manchmal ist es notwendig, sich von einem Originaltext ein Stück zu entfernen, um ihn transportieren zu können, das kam für mich hier nicht in Frage. Ich hatte den Eindruck, dass kein Wort willkürlich gewählt war, und dem wollte ich Rechnung tragen.

Das Thema Autismus trendet in den Medien – über alle Generationen hinweg interessieren sich mit steigender Häufigkeit immer mehr Menschen für Symptomatik, Diagnose und Umgang mit Menschen mit einer Autismus-Spektrums-Störung (ASS). Was würden Sie sagen, macht die literarische Auseinandersetzung mit der Thematik so besonders?

Es ist immer spannend, etwas über das Innenleben Anderer zu erfahren, über ihren Blick auf die Welt. Im Gegensatz zu einem Sachbuch gewährt uns der Roman einen unmittelbaren Zugang zu Gedanken, Gefühlen, Herausforderungen der Protagonisten und in diesem Fall zu einer unfassbar reichen, sprachgewaltigen, fantasievollen Innenwelt, die sich in der direkten Begegnung mit Menschen, die von ASS betroffen sind, häufig nicht offenbart. Ebenso wertvoll ist in meinen Augen der sezierende und durchaus entlarvende Blick einer autistischen Autorin auf ihre Umwelt, also die Welt, die wir als „normal“ bezeichnen würden.

Gibt es eine Textstelle, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Schon die Anfangssequenz, in der Sunday ihr Essverhalten schildert, hat auf mich einen regelrechten Sog ausgeübt, mich neugierig gemacht auf diese Figur:

"Ich befand mich in jenem Sommer in einer ausgeprägten Phase weißer Lebensmittel, und meine Frühstücksmahlzeit umfasste diverse Variationen: Toast, Haferflocken oder Crumpets. An Tagen, an denen meine Nahrung nicht trocken sein muss, gelten außerdem Rührei oder Omelett als weiß. Mir ist erst klar, ob es ein Tag ist, an dem ein Ei ein weißes Nahrungsmittel ist, wenn ich es in der Hand halte. Für mich bedeutet es eine kleine, aber tiefgehende Freude, dass ich als Erwachsene jeden Tag selbst entscheiden kann, ob ein Ei sich als weiß und damit essbar qualifiziert, ohne mich rechtfertigen zu müssen. Ohne dass man mir sagt, ich mache mich lächerlich. Dass ich hysterisch bin, nach Aufmerksamkeit giere und ignoriert werden muss, bis ich etwas in mich hineinzwinge, das von brutaler Farbe ist."

In der Vergangenheit haben Sie bereits Romane u. a. von Simon Beckett, Roddy Doyle, Chan Ho-kei und Amitav Gosh übersetzt. Wie sind Sie zum Übersetzen von Literatur gekommen?

Wie viele Kolleg*innen, bin auch ich Quereinsteigerin. Ich hatte bereits als Kind eine starke Affinität zur englischen Sprache, las englische Kinderbücher und habe statt deutschen Radiosendern lieber AFN gehört, der für die in Bayern stationierten amerikanischen Streitkräfte bei uns ausgestrahlt wurde. Meine Mutter Margarete Längsfeld, die als literarische Übersetzerin über dreihundert Titel aus den englischen Sprachen ins Deutsche brachte, hat mich irgendwann unter ihre Fittiche genommen und mir alles an Handwerks- und Rüstzeug mitgegeben, was nötig war. Sie stand mir bei den ersten Titeln – inzwischen sind es auch bei mir über neunzig - als Lektorin beiseite, bis ich das Gefühl hatte, auf eigenen Beinen stehen zu können. Vor ein paar Jahren habe ich schließlich meine sichere Festanstellung endgültig an den Nagel gehängt, um mich ganz dem Beruf der literarischen Übersetzerin zu widmen. Zwischen lukrativen Bestsellern immer wieder auch literarische Titel übersetzen zu können, wie GOYA sie im Programm hat, empfinde ich als große Bereicherung.